Mit einem Eklat bog am Samstagabend das Comicfestival in Angoulême auf die Zielgerade ein und rief damit noch einmal die mehr als verunglückte Wahl zum Grand Prix in Erinnerung, die vorab einen Schatten auf die alljährliche Veranstaltung im Südwesten Frankreichs geworfen hatte. Dabei war das Festival selbst recht harmonisch verlaufen und konnte mit einem überraschend starken Ausstellungsprogramm aufwarten, was die Querelen im Vorfeld beinahe hatte vergessen lassen. Doch von Anfang an.
Noch vor dem ersten Festivaltag wurde am Mittwoch der neue Träger des Großen Preises bekannt gegeben. Es war, wie erwartet, der belgische, seit den 1960ern aktive Künstler Hermann. Als einziger der drei zur Wahl stehenden Kandidatinnen hatte er nicht angegeben, einen eventuellen Preis abzulehnen. Genau das hatte er in den vergangenen zwei Jahren bereits getan, als er ebenfalls auf der Shortlist zum Grand Prix geführt worden war. Nachdem nun zuletzt die ebenfalls nominierte Claire Wendling abgesagt hatte, stand einer Verleihung an ihn nichts mehr im Wege. Die Spannung war also vorbei, da konnte die Vergabe in die offizielle Eröffnungsveranstaltung in der Angoulêmer Mediathek integriert werden und musste nicht, wie üblich, bis Sonntag warten. Der diesjährige Preisträger Katsuhiro Otomo überreichte die Katzen-Statuette und sorgte für eine willkommene Fotogelegenheit.
Gab es im vergangenen Jahr mit Bill Watterson einen Preisträger, der sich nicht persönlich vor Ort zeigte, dessen Werk aber mit einer umfangreichen Werkschau gewürdigt wurde, war es bei Otomo nun nahezu umgekehrt: Der scheue Mangaka machte zwar eine Reihe offizieller Termine mit, sein Werk war aber bedauerlicherweise kaum zu sehen: Einzig im Keller des Theaters zollten einige Dutzend Zeichnerinnen und Zeichner "Akira" Tribut. Neben vielen allenfalls hübschen Splash Pages gab es nur wenige Einzelseiten, in denen sich Otomos Opus Magnum als Quelle für gelungene eigene Interpretationen erwies – oben der Beitrag von Ludovic Debeurme. Welche Gründe auch immer für eine Abwesenheit einer dezidierten Otomo-Ausstellung verantwortlich waren, lieber hätte man hier noch mehr Originale des Preisträgers gesehen, der hier nur zwei Motive beisteuerte. Im nächsten Jahr ist dann wieder mit einem Präsidenten zu rechnen, der sowohl mit einer Ausstellung wie auch persönlich präsent sein wird, immerhin.
Inspirationsquellen standen auch im Mittelpunkt der Hugo Pratt-Ausstellung im Espace Franquin, einer der gelungenen Ausstellungen in diesem Jahr. Die zuvor im Museum Hergé in Belgien gezeigte Ausstellung gliederte sich in rund 15 Kapitel, die jeweils einen Bezugspunkt von Pratts Arbeiten in den Mittelpunkt stellte: Von literarischen Vorbildern wie Robert Louis Stevenson bis zu Comic-Kollegen wie Hector German Oesterheld. Großzügig waren die einzelnen Stationen illustriert – viele Originale säumten die Wände, ergänzt um Comic-Hefte wie "Hora Cera Semanal", "Sgt. Kirk" oder sogar "Pif Gadget", in dem "Corto Maltese" zeitweise veröffentlicht wurde.
Freud und Leid lagen bei den Originalen nah beieinander: Beeindruckten die getuschten und aquarellierten Originale mit ihrer beiläufigen Könnerschaft und enormen Ausdruckskraft, bestürzte oftmals zugleich ihr Zustand: Auf einer Reihe von Seiten verblassten die Farben bis zur Unkenntlichkeit, hier und da lösten sich die ehemals feinen Linien in unscharfe Konturen auf. Ein Alptraum.
Kaum Auflösungserscheinungen zeigten die vielen Dutzend Originalseiten von Morris, dessen "Lucky Luke" anlässlich des 70. Jubiläums seiner Erstveröffentlichung mit der umfangreichsten Schau des Festivals im Comic-Museum geehrt wurde. Auch hier wurden an einzelnen Stationen inhaltliche und zeichnerische Aspekte beleuchtet, ob die allgmeine Geschichte der Western-Parodie, ihre Kolorierung (besonders der Einsatz von Schwarzflächen), Zensurmaßnahmen, Layout-Besonderheiten, Parodien, und so weiter. Verblüffend war hier nicht nur, wie treffend und mit welch dynamischen Strich Morris seine Humor-Einfälle festhielt – daß er gerne mal eigene Zeichnungen kopierte und mehrfach verwendete, geschenkt –, auch die Tatsache, dass er trotz einer erheblichen stilistischen Metamorphose vor allem in den Anfangsjahren immer auf hohem Niveau arbeitete, wurde hier offenbar. Die frühen Abenteuer, als die Figuren noch weniger detailliert, runder und mehr von Animationsfilmen beeinflusst erschienen, vermitteln nicht den Eindruck, als wäre hier ein Künstler noch auf der Suche nach seinem Stil gewesen. Den mag er dann im Laufe der 1950er gefunden haben, zuvor erschien seine Arbeit aber nie unfertig oder als weniger gelungene Vorstufe zu seinen späteren Arbeiten. Erstaunlich.
Für einen kurzen Überraschungsmoment sorgten auch die Ausstellungen im CIBDI, wo in den vergangenen Jahren häufig Hauptausstellungen gezeigt wurden. Die großzügigen Räume belegten nun zwei ganz anders gelagerte Projekte: Zum einen war hier ein geräumiges Risografie-Studio eingerichtet, in dem während der Festivaltage an "Dome" gearbeitet wurde, einer Anthologie, die am Samstag Abend dann in den Verkauf kam. An der Wand illustrierten laufend ergänzte Riso-Drucke die Arbeit an dem Magazin sowie der mehrfarbigen Reproduktionstechnik selbst und gaben einen Vorgeschmack auf den Inhalt der in Entstehung befindlichen Anthologie. Auf Büchertischen wurde Riso-Gedrucktes – Einzelblätter, Mappen, Zines, Bücher – von verschiedenen Künstlern und Kollektiven angeboten, so war hier auch das Team von Breakdown Press aus London vor Ort, dessen Art Director Joe Kessler mit Alexis Beauclair und Sammy Stein vom Magazin Lagon die Entstehung von "Dome" leiteten. Im abgedunkelten Nebensaal präsentierte Ilan Manouach unter dem Titel "Shapereader" Comics für Blinde: Aus Holzplatten ausgefräste Formenkonstellationen in Panels, die eine Comic-Handlung ertastbar machten. Das notwendige Bildvokabular wurde zuvor auf großen Index-Platten erklärt. Ohne auf viel Wissen um Blindenschrift zurückgeifen zu können, schien das Konzept schlüssig und lud zudem zur Reflektion über das Wesen des Comics und dem Prozess seiner Entschlüsselung allgemein ein.
Ebenfalls sehr gelungen war die umfangreiche Ausstellung mit den Arbeiten Jean-Christophe Menus in der Angoulêmer Innenstadt. Der L'Association-Mitgründer zeigte auf zwei Etagen dutzende Originale, die seit den 1980ern entstanden waren und war zudem häufig selbst in den Räumen zugegen. Im Kontext der Ausstellungen, in denen jungen Independent-AutorInnen und experimentellen Ansätzen viel Raum gegeben wurde, schien die Ausstellung Menus gar nicht ironisch, was man vorher hätte annehmen können, war er doch selbst seinerzeit als Erneuerer und Umstürzler gestartet, der gegen genau das System aus Stilen, Formaten und Arten des Comicmachens aufbegehrte, das in Angoulême lange Zeit dominierte.
Darüber hinaus gab es noch mehr Schönes, Interessantes und Unbekanntes zu entdecken, ob in der alljährlichen Ausstellung mit Arbeiten der Angoulêmer Comic-Stipendiaten oder in der Ausstellung mit Arbeiten des mir zuvor unbekannten Hongkonger Künstler Li Chi-tak. Letztere Arbeiten, ausgestellt im Manga-Zelt, zeigten einen vielseitigen und seit Jahrzehnten aktiven Künstler, dessen Seiten große Lust auf die Lektüre des umfangreichen Werks machten.
Natürlich gefiel nicht alles Ausgestellte, hier und da konnte auch etwas nicht überzeugen oder schien, wie die Interduck-Ausstellung, schlicht überflüssig, der positive Eindruck überwog hier aber ganz eindeutig. In dieser Breite hatte das oft sehr auf eine Hauptausstellung fixierte Ausstellungsprogramm in den vergangenen Jahren nicht derart überzeugen können. Wenn das im nächsten Jahr beibehalten wird, wird man sich nicht vor einer Dominanz des sehr klassischen Comicverständnisses eines Hermann in den Ausstellungen fürchten müssen.
Zusätzlich konnte man sich von der Vielzahl von Comics, die an den Verlagsständen präsentiert wurden, überwältigen lassen. Wie in jedem Jahr verteilten sich die Verlagsstände in über die Innenstadt verteilte Zelte, in denen präsentiert wurde, was im vergangenen Jahr erschienen war, und wie man weiß, ist das eine Menge. Nach einigen Stunden, die man nur zur oberflächlichen Sichtung der schieren Masse benötigt, stellt sich eine akute Bildüberlastung ein und die Qualität vieler Comics und das Wissen, dass für so Vieles im deutschsprachigen Raum kein Markt besteht, sorgt für Euphorie wie für Ernüchterung. Aber dafür fährt man ja dorthin.
Zwischen den Independent-Verlagen befand sich auch in diesem Jahr wieder ein Stand mit deutschen Comics, der vom Deutschen Comicverein, dem Goethe-Institut und dem Comic-Salon Erlangen betrieben wurde. Hier signierten laufend die anwesenden deutschen Zeichnerinnen und Zeichner wie Anna Haifisch, auf deren Gestaltung die Standdeko basierte, wie auch der mit seinem "Der Trinker"-Buch für einen Festivalpreis nominierte Jakob Hinrichs. Am Freitag wurde wieder zum Umtrunk geladen, gemeinsam mit den Länder-Ständen aus Schweden und Norwegen verwandelte man den Zeltgang zur beliebten Trinkmeile: Schnell war hier an ein Durchkommen nicht mehr zu Denken und das fassweise aus Erlangen importierte Bier ausgetrunken. Nicht nur deswegen war von den StandmitarbeiterInnen von erfreulichem Interesse an deutschen Comics zu hören. Die großzügige Präsentation von Comics aus Deutschland und die langfristige Präsenz scheint sich auszuzahlen.
Von den Auseinandersetzungen um den Festivalpreis war während des Festivals wenig zu spüren, das Ausstellungs- und Messegeschehen zog angenehmerweise die Aufmerksamkeit ganz auf sich. Bis zum Samstagabend, an dem die Festivalpreise vergeben wurden. Hier hatte im Dezember eine mit der Wahl zum Grand Prix nicht assoziierte Jury die Longlisten bekannt gegeben, nun wurden wie immer im Rahmen einer Gala die Siegertitel in den verschiedenen Kategorien bekannt gegeben. So weit, so bekannt der Ablauf. Der zum ersten Mal mit der Moderation beauftragte Moderator Richard Gaitet betrat zu Beginn die Bühne, kündigte direkt eine sehr kurze Zeremonie an und gab innerhalb von unter zehn Minuten die ausgezeichneten Titel bekannt. So ginge der Nachwuchspreis an Jakob Hinrichs für "Der Trinker", der Preis für das besten Buch an Olivier Schrauwens "Arsene Schrauwen" und so weiter. Ausgezeichnete freuten sich, der Saal applaudierte, Nachrichten wurden verschickt. Doch wie Gaitet direkt bekannt gab, sei all das nur ein Scherz gewesen, nun beginne die eigentliche Verleihung, was dann auch geschah. Wie bereits berichtet, war es dann "Hier" von Richard McGuire, das als bester Comic des Jahres ausgezeichnet wurde – ein würdiger Sieger und bemerkenswerterweise ein nicht-französischer Titel. Das trat aber schnell in den Hintergrund, vielmehr sorgte am Abend und am Festival-Sonntag der durch die falschen Preise erzeugte Ärger für weitere Aufmerksamkeit. Auch wenn sich der mit der Zeremonie nicht befasste künstlerische Leiter noch am Samstag peinlich berührt zeigte, verteidigte Festivalleiter Franck Bondoux den Ablauf der Veranstaltung, auf einem Comicfestival wäre so ein komischer Einfall zur Auflockerung doch angebracht. Mit der Meinung stand er aber weitgehend allein. Verleger wie Killoffer von L'Association oder Pol Scorteccia von Urban Comics waren nicht die einzigen, die sich schockiert zeigten. Letzterer musste beispielsweise den umgehend benachrichtigten Fiona Staples und Brian K. Vaughn anschließend mitteilen, dass sie doch keinen Preis gewonnen hatten. Überhaupt waren einige der falschen Preise in den sozialen Medien verbreitet worden, bevor der üble Scherz erklärt wurde. Während Moderator Gaitet sich nun wortreich für seine Fehleinschätzung entschuldigt, hält das Festival an der Respektlosigkeit gegenüber Autoren und Verlagen fest.
Die diesjährige Ausgabe des Comicfestivals in Angoulême hätte auf einer heiteren Note enden können. Nach den chaotischen Ereignissen im Vorfeld zeigte sich das Festival von seiner besten Seite und unterstrich, warum es zu den wichtigsten Comic-Veranstaltungen weltweit gehört. Zudem hatte die französische Ministerin für Kultur, Fleur Pellerin am Rande des Festivals bekannt gegeben, dass eine Reihe von Autorinnen und Autoren in den Rang der "Chevaliers des Arts et des Lettres" erhoben werden: Julie Maroh, Chloé Cruchaudet, Aurélie Neyret, Mathilde "Tanxxx" Arnault, Marguerite Abouet, Christophe Blain, Mathieu Sapin und Riad Sattouf wurden so ausgezeichnet, Verleger Jacques Glénat sogar in den höheren Rang des Offiziers versetzt. Das sind nicht nur an sich besondere Auszeichnungen, mit gleich fünf Künstlerinnen war es auch ein wichtiges Signal für den Stand der Frauen in der Welt des Comics.
Nun ist es umso bedauerlicher, dass mit den Vorgängen vom Samstagabend das Festival von Ärgernissen gewissermaßen eingerahmt und der eigentlich so positive Eindruck davon überschattet wird. Über die Uneinsichtigkeit der Organisatoren wird zu reden sein.