Beitrag & Interview: Augusto Paim
Ein ganz Unbekannter in der deutschen Comicszene ist er nicht. Zeichnungen von ihm waren letztes Jahr in den Gruppenausstellungen „Nothing special“ in Mannheim und „Parias“ auf der Comic Invasion Berlin zu sehen. Auch die in Lettland herausgegebene und in Deutschland erhältliche Comicanthologie kuš! veröffentlichte eine Geschichte von ihm („Dead horses remain on the roadside“ wird demnächst auch bei Electrocomics verfügbar sein). Außerdem stellte er im Oktober 2012 gemeinsam mit Mawil seine Comics in Florianópolis, Südbrasilien, vor. Dennoch genießt er bisher nur in seiner heimatlichen Comicszene in Brasilien Bekanntheit: Pedro Franz.
Ende 2012 wurde in Rio de Janeiro ein ganzer Zug mit seinen Zeichnungen dekoriert, eine Werbeaktion für die Fernsehserie „Suburbia“, die er in einem Comic adaptierte. Franz illustriert regelmäßig für das angesehene Magazin piauí, eine Art brasilianischer New Yorker, und für renommierte Literaturzeitschriften. Seine Anerkennung beruht allerdings nicht auf diesen großen Aufträgen. Schon mit seinen ersten unabhängig veröffentlichten Comics hat er sich beim Fachpublikum als talentierter, kreativer und innovativer Autor einen Namen gemacht. In seinem Werk werden nicht nur Geschichten erzählt, es geht auch darum, das Medium neu zu entdecken. So besteht der zweite Teil seiner Trilogie „Promessas de amor a desconhecidos enquanto espero o fim do mundo“ aus einem Umschlag, aus dem man die Seiten seines Comics – in dem den Text des Ethnologen Clifford Geertz über den balinesischen Hahnenkampf reflektiert – zieht. Der Comic funktioniert wie ein Kartenspiel, da jedem freigestellt ist, die Blätter auf eigene Art und Weise zu sortieren und zu lesen.
Pedro Franz war nun im Juni erstmals für eine Woche in Berlin, und stellte hier sein neues Werk vor: „The Tunguska Incident“ (vom brasilianischen Portugiesisch ins Englisch von Érico Assis) war seine Master-Abschlussarbeit für das Studium der Bildenden Künste, das er 2015 an der Universidade Estadual de Santa Catarina abschloss. Der Comic greift ein reales Ereignis auf – eine gewaltige Explosion am 30. Juni 1908 in der Nähe des russischen Flusses Steinige Tunguska –, um das Medium zu erforschen. Die Arbeit besteht aus dem Comic selbst, der akademischen Forschung mit dem daraus resultierenden Text, sowie einer Ausstellung. Diese allerdings nicht getrennt, denn Franz, ein ausgebildeter Designer mit akademischer Neigung, hat Teile der Abschlussarbeit als erklärenden Text in der Ausstellung selbst aufgehängt, während die Gutachter eingeladen wurden, ein Bild aus der Ausstellung auszusuchen und es auf eine leere Seite der Abschlussarbeit zu kleben. Auch der Comic ist ein Versuch, die dreidimensionalen Gegenstände der Ausstellung gewissermaßen ins Papier zu übertragen, und zwar mittels von Franz selbst etablierter Einschränkungsregeln: Erstens durfte er nur mit Graphit zeichnen, zweitens konnte jede Doppelseite nur eine einzige, von den anderen Doppelseiten unabhängige Szene beinhalten, und zuletzt musste er auf menschliche Figuren verzichten (mit Ausnahme der letzten Seite, auf der Franz sich selbst mit Anspielung auf den Fotografen Duane Michals portraitiert). Für ihn sind akademische Forschung und künstlerische Praxis eine untrennbare Einheit.
Um Pedro Franz in Berlin willkommen zu heißen, wurde am Montag, dem 13. Juni ein kleines Comictreffen veranstaltet. Das folgende Gespräch führten wir im Laufe einer angenehmen Stunde auf einem Balkon an der Schwedter Straße, den Blick Richtung des frühen Standorts der Mauer, während die Gäste langsam das Wohnzimmer voll und laut machten. Draußen wurde der Eindruck der untergehenden Sonne in der Metropole von der Geräuschkulisse von Ponys, Schafen, Hühnern und Ziegen der Jugendfarm Moritzhof konterkariert. Franz beantwortete die Fragen ruhig und mit Bedacht.
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Wie bist Du in Berlin gelandet?
„The Tunguska Incident“ hat die Elisabete Anderle-Kulturförderung der Fundação Catarinense de Cultura in Brasilien bekommen. Im Antrag habe ich mich nicht nur für die Publikation auf Portugiesisch und Englisch beworben, auch eine internationale Reise war vorgesehen. Ursprünglich wäre es nach Angoulême zum Comicfestival gegangen, aber es gab Verspätungen. Mittlerweile ergab sich die Gelegenheit, an der [Berliner Kunstbuchmesse, Anm. Paim] Miss Read teilzunehmen. Danach geht es auf Einladung von Comicforscher Pedro Moura weiter nach Amadora bei Lissabon. Dort stelle ich den Comic auf Portugiesisch vor und beteilige mich an einer eher akademischen Debatte über meine Recherche in der Comicbibliothek Bedeteca. Danach fahre ich schließlich nach Angoulême, wo ich gemeinsam mit den Comicautoren Matt Madden und Jessica Abel im Laden Le Comptoir des Images signiere. So wird „Incident“ wie gewünscht an drei Orten vertreten sein, welche die verschiedenen Aspekte dieses Werkes abdecken: Comics (Angoulême), akademische Forschung (Amadora) und Künstlerbücher (Berlin).
Während des Masterstudiums hast Du Dich gefragt, ob Du ein Künstler oder ein Comiczeichner bist. Wie lief dieser Prozess ab?
Als ich gegen 2008, 2009 anfing, ernsthaft Comics zu machen – das war mit der Publikation einiger Teile der Trilogie „Promessas“ –, hatte ich damit Schwierigkeiten, mich als Comicautor zu bezeichnen. Da ich viel Respekt vor Comicautoren hatte, fühlte ich mich eher als jemand, der auch Comics machte, aber noch kein Comicautor war. Irgendwann habe ich aber die Bezeichnung übernommen, und das war auch eine politische Angelegenheit, wie um es zu behaupten: Ich mache Comics, das habe ich für mein Leben ausgewählt, also bin ich ein Comicautor. Das war damals sehr wichtig für mich. So ist auch mit der Bezeichnung Bildender Künstler passiert. Man könnte sagen, dass es sich nur um eine Bezeichnung handelt, aber für mich war es befreiend, indem ich akzeptieren konnte, dass ich andere Praktiken außer Comics entwickle, und dass diese auch zu meinen Absichten als Künstler gehören. Es war ein Prozess, mich zu akzeptieren und auch mich zu entdecken. Nicht, dass ich denke, ein Comicautor sei kein Künstler. Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass man unter „Comicautor“ zunächst eine Person versteht, die nur mit Comics arbeitet.
Ein Thema Deiner Dissertation ist die Form der Ausstellung von Comics: Üblicherweise werden Comics statisch ausgestellt, einfach Seiten an der Wand. Wie gehst Du damit um?
Ich wollte verstehen, wie eine Galerie ein Raum für Comics sein kann, ohne in dieser traditionellen Form von Comic-Ausstellungen zu landen, wo nur Originale gezeigt werden. In dieser traditionellen Form geht es um den Fetisch, die Aura des originalen Gegenstandes – um Walter Benjamin zu zitieren. Man sieht allerdings nur einige Teile, oft gibt es sogar keinen Text in den Blasen. Das wollte ich in meiner Ausstellung nicht machen. In der „Incident“-Ausstellung gibt es sowohl Originale wie auch gedruckte Gegenstände, und das alles ist ein Ganzes.
Wenn man den Raum der Galerie als einen Raum für Comics betracht, sieht man eben die Comic-Publikation als einen Ausstellungraum. Etwa wie die Autoren Baudoin und Troubs, die in die mexikanische Stadt Ciudad Juárez fuhren und dort zwei Monate blieben. Sie unterhielten sich mit den Einwohnern, porträtierten sie und bitteten diese darum, als Tausch für das Porträt einen Traum zu erzählen. Sie zeichneten das Erzählte in einem Buch auf, das in gewissem Maß ein Reisetagebuch, eine Reportage über die gewalttätige Stadt und auch ein Comicwerk namens „Viva la vida“ ist. Das wiederholten sie in Kolumbien mit „El sabor de la tierra“. Der Aufenthalt an diesen Orten ist selbst Teil ihrer künstlerischen Praxis, nicht nur die Bücher.
Hier denke ich wie [Nicolas] Bourriaud und seine Definiton der „Relationalen Kunst”. So kann man meiner Meinung nach auch die Praxis der Comicautoren in andere Bereiche erweitern. Ein Comic kann aus einem Buch oder einer Ausstellung bestehen, aber auch aus den alltäglichen Praktiken, dem alltäglichen Austausch. Ich nenne das Dispositive. Ich interessiere mich für diese Tätigkeiten, die manchmal nicht unbedingt mit dem Schaffen eines Comics zu tun haben, sondern aus anderen Praktiken bestehen. Viele von denen sind politisch oder beinhalten Entscheidungen der Künstler, die ihre Arbeiten bestimmen. [Der Brasilianer Fábio] Zimbres zum Beispiel: Er ist eine Person, die ständig etwas macht, unter anderem Comics. Dennoch engagiert er sich für den Comic in tausend Formen: Als Selbstverleger, durch Unterstützung von Autoren, das Erschaffen eines Netzwerkes von Comickünstlern... Das alles macht er. Nicht nur als großartiger Künstler und Comiczeichner, sondern auch durch seine anderen Tätigkeiten ist er ein Vorbild für uns. Ich wiederum bin ein Comicautor, der auch akademische Forschnungen macht.
Wie war die Akzeptanz Deiner Arbeit mit Comics während des Masterstudiums?
Als ich das Projekt einreichte, trug es einen Titel wie „Comic als zeitgenössische Kunst“ oder „Der Comic in der zeitgenössischen Kunst“ oder „Der Comic in den Bildenen Künsten“. Es war also klar, dass es um Comics ging. Später traf ich einen Freund, der auch Künstler und Akademiker ist, der mir sagte: „Oh nein, du hättest nicht den Begriff ‚Comic‘ verwenden sollen! Die Leute der Bildenden Künste verstehen das nicht.“ Ich konnte seine Meinung nachvollziehen, aber ich wollte eben diesen Begriff benutzen. Ich wollte sozusagen „gentrifizierte“ Begriffen wie „Graphic Novel“ oder „Sequenzielle Kunst“ vermeiden und wusste, dass mich der Titel benachteiligen könnte. Dennoch ist eben das Gegenteil passiert. Während des Studiums lernte ich sehr offene und großzügige Menschen kennen. Ich war der einziger Comicforscher an der Uni, trotzdem interessierten sich viele Leute für mein Projekt. Ich traf die Leute, die Künstlerpublikationen machen, oder diejenigen Bildenden Künstler, die auch mit Text arbeiten. Einige waren sehr nett und wichtig für die Forschung, weil sie mir Wege zeigten, die ich noch nicht kannte.
Kanntest Du schon andere Comicforschungen, die in solcher Art an Hochschulen durchgeführt wurden, und Dich motiviert haben, Dein Projekt einzureichen?
Ich glaube nicht... [überlegt] Ich glaube, forschende Comicautoren sind noch selten in der Akademie. Ich meine, es gibt zwar viele Comicforscher, aber üblicherweise legen sie den Fokus auf einen einzigen Aspekt. Es sind Forscher, die vielleicht auch Comics machen, oder Comicautoren, die zwar forschen, aber deren Forschung nicht Teil ihrer künstlerischen Praxis ist.
Ein Beispiel: „Incident“ hatte ursprünglich einen Untertitel. Ich kann mich nicht mehr so richtig erinnern, aber es war etwas wie „Tunguska – Comic und Bildene Künste zusammen denken“. Irgendwann zwischen dem letzten Zwischenbericht und der Verteidigung sprach ich mit meiner Betreuerin, und wir haben den weggestrichen. Die drei Teile – die Masterabschlussarbeit, der Comic und die Ausstellung – heißen also einfach „Tunguska“. Alles zusammen. Einige Leute können die Masterabschlussarbeit selbst nicht lesen, aber Ausschnitte daraus waren in der Ausstellung zu sehen, fast wie ein Vorstellungtext, also als Teil der Ausstellung selbst. Was ich meine, ist, dass es oft eine Trennung gibt zwischen den zwei Dingen. Ich hingegen sehe beides zusammen: Meine künstlerische Forschung und meine akademische Forschung sind ein einziges Ding.
Dennoch will ich nicht ungerecht zu anderen Forschern sein. In diesem Sinne meine ich: Selten finde ich, dass die künstlerische Forschung Teil der akademischen Forschung ist. Ich kenne zumindest wenige Fälle.
Willst Du weiter akademisch arbeiten?
Zurzeit bin ich selbst an der Antwort dieser Frage sehr interessiert. Ich versuche das zu verstehen und auch, warum man eine akademische Forschung führt. Nach der Verteidung hatte ich komischerweise nicht das Gefühl, die Forschung meiner Masterabschlussarbeit wäre beendet. Erst jetzt, wo ich „Incident“ auf Englisch verteile, dass es zirkuliert und die Leute es lesen, scheint mir das so. Es ist, als ob die Arbeit über die akademische Forschung hinaus fortdauert.
Meine Bachelorarbeit in Design war auch über Comics, aber in keinem Moment bin ich mit der Absicht an die Hochschule gekommen, um zukünftig Professor zu werden. Jetzt aber fängt die Lust an, in einem akademischen Milieu tätig zu sein. Mir gefällt die akademische Forschung sehr. Mir gefällt ihre Rigorosität und der Kontakt mit anderen Forschern. Deswegen habe ich das Interesse, diese Forschung in einem Doktorat weiter zu entfalten.
Ein Merkmal Deiner Arbeit ist meiner Meinung nach, dass Deine Comics keine fertigen Produkte sind. Der Prozess interessiert Dich eher.
Die erste Ausstellung von „Incident“ in einer Galerie dauerte einen Monat. Sie war auch ein Prozess. Ich habe sie im Laufe der Zeit mehrmals bearbeitet. Sie fing so an, und endet anders. Es war meine erste eigene Ausstellung. Vorher wusste ich nicht, wie man den Comic in den tridimensionellen Raum der Galerie übersetzen kann. Das interessierte mich sehr.
Die Arbeit an meinen Comics ist für mich ebenfalls ein kontinuierlicher Prozess. Wenn sie gedruckt werden, verleihe ich ihr eine endgültige Form. Deswegen bin ich in der Phase vor dem Druck paranoid. Da bin ich obsessiv und bemühe mich darum, das Ding in die von mir beabsichtigte Form zu bringen, bevor es in die Druckerei geht. Ich kümmere mich um jedes kleines Detail, jeden kleinen Text. Danach tritt die Publikation wieder in eine Kontinuität ein, dann aber in der Beziehung mit den Lesern und in den weiteren Räumen, die sie erreicht.
Als Deine Version von „Suburbia“ erschien, gab es Mitglieder eines Internetforums, welche die Comic-Adaption der Fernsehserie mit dem Vorwurf hart kritisierten, die Zeichnungen seien „hässlich“. Wahrscheinlich sind sie an andere Stile von Adaptionen gewöhnt. Was denkst Du über die Hässlichkeit als einen ästhetischen Wert?
Ich habe dieses Forum auch gesehen und fand es lustig zu lesen. Ich verstehe, was sie meinten und finde es ok. Vielleicht ist der Comic ja hässlich. In „Suburbia“ ging es für mich darum, einen Zeichenstil zu finden, der sowohl die Kraft der brasilianischen Funk-Musik beinhaltet, als auch die Athmosphäre brasilianischer Vororte, worum es in der Serie ging. Anderseits gab es die Sache der Frauendarstellung. Der Regisseur Luiz Fernando Carvalho und ich wollten uns in dem Comic nicht visuell von den Schauspielern der Fernsehserie entfernen, aber für mich war es schwierig eine heiße Frau tanzend darzustellen...
Neulich habe ich einen Vodcast im Internet gesehen, in dem zwei Leute „Incident“ kommentieren. Einer gab viele Komplimente, der andere hingegen sagte: „Es ist doch nur Kritzelei“. Das ist sehr toll, oder? Es ist ja nur Kritzelei. Was mich da interessiert, ist, wie man einen Comic mit minimalen Mitteln macht. Auf einer Seite von „Incident“ sind nur zwei Vierecke zu sehen, die sich annähern und sich entfernen. Da kann mein Stil fast nicht erkannt werden. Ich mag solche Werke, die nur aus Kritzelei und vielleicht einem geschriebenen Wort dazu bestehen, bei denen der Autor in so einem gewissen Maß anwesend ist – wenn es Sinn im Universum des Autors macht.
Anderseits erzeugt die Zeichnung selbst etwas. Auch wenn sie abstrakt ist, wenn es Kritzelei ist. Da gibt es eine Potenz, welche die realistisch orientierte Zeichnung allein nicht hat. Ich kann schon in einer naturalistischen Form zeichnen. In „Incident“ sind verschiedene Stile zu sehen. Die Zeichnungen können also nicht nur eine gute Geschichte erzählen, sie können auch etwas im Leser bewirken. Die Textur, die Graphitschichten auf dem Papier, sind dort aus bestimmten Gründen. Sie bedeuten etwas.
Wie bist Du zum Medium Comic gekommen? Viele beginnen mit dem Lesen von Kindercomics, aber von Kindercomics zu den Comics, die Du heute machst, ist es ein großer Sprung.
In der Phase zwischen zehn und 14 Jahren war ich ein omnivorer Leser von Comics, ich las zwanghaft alles. Zu dieser Zeit habe ich angenfangen, Comics zu machen. Als ich elf war besuchte ich die ersten Comickurse, mit 17, 18 Jahren veröffentlichte ich die ersten Zines. Und dann hörte ich auf. Als ich 19, 20 Jahre alt war, entwickelte ich eine Art Comic-Blockade. Ich fand keinen Comic mehr, der mein Interesse weckte. Damals hatte sich das Internet noch nicht so durchgesetzt. Es war schwierig, Zugang zu Comics von außen zu haben, andere Künstler kennen zu lernen. Ich wohnte ja in einer kleinen Stadt.
Erst als ich nach Argentinien zog und in Kontakt mit dem dortigen Comic kam, konnte ich die Blockade überwinden. Ich war 23 Jahre alt und wohnte zwei Jahre lang dort. In Argentinien begeisterte ich mich für die Arbeit von [Alberto] Breccia, [Héctor German] Oesterheld... Ich hatte meine Arbeit in Brasilien beendet, Geld gesparrt und bin dorthin gefahren, um für eine gewisse Zeit zu zeichnen und zu schreiben. Es sollte sechs Monate dauern, aber ich bin dann noch länger geblieben, fand dort einen Job und stellte meine Arbeit in einigen Galerien aus. Die argentinischen Comics waren für mich sehr wichtig, auch weil es sie schon so lang gab und ich sie trotzdem nicht gekannt hatte, was damals hieß, dass ich bis dahin die „falschen“ Comics gelesen hatte und dass es für mich viel zu entdecken gab.
Trotz des weiteren Erfolgs, den Dir die größen Aufträge brachten, bleibst Du jetzt genauso wie früher sehr aktiv in der Independent-Comicszene. Du selbst bist eine Art Vermittler, der gern Werke und Künstler, die Du entdeckst und Dir gefallen, empiehlt. Ist diese etwas, was Du beibehalten willst?
Ja, sicher. Berliac [ein in Berlin lebend argentischer Comiczeichner] ist ein Künstler, der sich dafür viel stärker als ich engagiert. Er vernetzt Leute, ständig zeigt er den Verlegern Dinge, die ihm gefallen, er kennt alle Publikationen, er spricht mehrere Sprachen fließend und kann so viele Leuten erreichen... In der Comicwelt gibt es etwas Schönes, und zwar dieses kollaborative Netzwerk von Verlegern, Zeichern, Forschern. Pedro Moura zum Beispiel: Als er jetzt unsere Veranstaltung bewerben wollte, postete er: „Liebhaber des experimentellen Comics, vereinigt euch!” Es ist lustig, denn es ist eine ganz kleine Szene, es sind wenige Leute. Comics können zwar auch an anderen Orten wahrgenommen werden, aber es sind wenige, die sich sehr dafür interessieren...
Eine Provokation: Wenn ich Deine Comics als intellektuell oder akademisch definiere, klingt das wie ein Kompliment oder eine Beleidigung?
Ich weiß nicht, was ein akademischer, ein intellektueller Comic ist... [skeptisch] Ich habe den Eindruck, viele Leute in der Comicwelt haben ein Problem mit dem Wort „intellektuell”, sie wollen Abstand davon halten. Dieser Eindruck war früher stärker, mittlerweile ist er nicht mehr so intensiv, aber ich merke ihn immer noch. Ich glaube nicht, daß ich akademische Comics mache... „Incident“ ist vielleicht meine experimentellste Arbeit. In gewisser Art und Weise ist es eine Arbeit, die sich von der traditionellen Vorstellung von Comics am weitesten entfernt. Ein Freund von mir sagte, dass „Incident“ mein hermetischstes Werk ist, daß ich mich damit von den Lesern entferne. Ich verstehe seine Meinung und ich stimme in gewissem Maß zu. Gleichzeitig ist es aber auch die Arbeit, für die ich das meiste Feedback von Leuten bekam, die sagten, sie haben es gelesen und identifizieren sich mit ihr.
Ich denke außerdem, dass wir „Moderationsräume“ schaffen können. „Incident“ wird kostenlos verteilt. Meine Reise jetzt ist auch deshalb zustandegekommen, da ich mich derzeit stark dafür interessiere, wie man den Comic vermitteln kann, wenn man ihn persönlich den Lesern gibt und sich währenddessen mit ihnen unterhält; wie man so Zugang dazu ermöglichen kann, um zu zeigen: Obwohl dieses Werk etwas hat, daß als akademisch oder intellektuell auszeichnet – nicht, dass andere Werke es nicht haben! –, ist es nicht so weit draußen oder kompliziert. Es ist komplett nahe am... Leben.
Meine Vorstellung von Comics ist eng damit verbunden: ein Comic nah am Leben. Das finde ich das Schöne an Comics.
In Argentinien wohnte ich ca. 20 Meter von der bekannten Mafalda-Statue [eine Sehenswürdigkeit von Buenos Aires, eine Statue der Figur des argentinischen Comiczeichners Quino lebensgroß auf einer Bank sitzend; die Touristen können sich daneben hinsetzen und sich fotografieren lassen]. An der Ecke gegenüber, dorthin wo die Statue blickt, lag meine Stammkneipe. Dort traf ich alle meine Freunde, machte mehrmals die Woche Soundchecks und Konzerte, und lernte meine damalige Freundin kennen... Dort kannte ich jeden! Die Kneipe wurde allerdings dichtgemacht, sogar als ich noch in Argentinien lebte. Sie wurde erst zu einem Eisladen, jetzt ist dort ein Kiosk, glaube ich. Viele Leute beziehen sich auf das Bild der Mafalda-Statue, wenn sie über Comics sprechen. Die Statue ist das Konzept von Comics selbst. Man sieht sie und man assoziiert sie unmittelbar mit Comics. Für mich war aber die Kneipe der Ort, an dem der Comic lebt. Dort, mit allem, was ich dort erlebt habe, mit dem Gedanken der Erinnerung oder eben der Fiktion, da in der Erinnerung auch etwas erfunden wird. Eines Tages sah ich dieses Foto der Mafalda-Statue und dachte: Der Comic ist nicht da, sondern gegenüber.
Was bekommst Du von der Comicszene in Deutschland mit? Was bringst Du von dieser Reise zurück nach Brasilien?
Es ist schwierig, über die Comicszene eines anderen Landes zu sprechen. Es gibt immer das Risiko, oberflächlich oder klischeehaft zu sein, wenn ich sage, dass ich alles schön fand. Aber ich spüre Enthusiasmus, da ich so viele interessante Dinge sah. Ich sehe hier vielfältige Konzepte von Comics. Leute, die sehr unterschiedliche Dinge machen und dennoch tauschen sie sich gern untereinander aus.
Fotos © Pedro Franz, © Augusto Paim